Die Geschichte der Wiesbaden SPD
Die Anfänge
Am 8. Dezember 1867 fand im Saal der Gastwirtschaft von Louis Kimmel in der Kirchgasse 8 die erste Versammlung des ADAV, des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, statt. Dies war der "Geburtstag" der sozialdemokratischen Organisation in der "Weltkurstadt", wie sich Wiesbaden ohne falsche Bescheidenheit seit 1852 nennen ließ: Kurstadt der Welt, der damaligen Welt, die Europa im Mittelpunkt sah, seine herrschenden Schichten von Adel, Militär und Großbürgertum. Sie gaben sich Sommer für Sommer in Wiesbaden ein Stelldichein.
Und doch hatte gerade hier noch keine vier Jahre vor der Benennung als Weltkurstadt, also 1848, eine Revolution stattgefunden, bei der sich am 4. März schätzungsweise 30 – 40000 Nassauer in der Hauptstadt ihres Ländchens auf dem Schloßplatz versammelten und die "Neun Forderungen der Nassauer" präsentierten. Herzog Adolf beeilte sich, vom Balkon des Schlosses diese Forderungen – Volksbewaffnung, Pressefreiheit, Vereinsrecht, öffentliche Gerichtsverfahren etc. – zu genehmigen. Die Debatten verlagerten sich von der Straße ins Nassauische Parlament. Engels konnte – leicht voreilig – Marx am 9. März nach London melden: "In Nassau eine vollendete Revolution." Das vermeintlich friedliche Ergebnis täuscht. Wie so oft hing die Entscheidung "Aufruhr – Blutbad – Ordnung" am seidenen Faden. Denn es liegt ein Bericht von 1902 vor, daß damals vor dem Schloß der Löwenwirt Philipp Wagner aus Dotzheim mit den Worten "den schieß ich vom Balkon erunner" auf den Herzog angelegt habe. Nur das beherzte Eingreifen einiger Wiesbadener habe das Attentat verhindert.
Auch die Ziele der am 4. April 1848 gegründeten "Republikanischen Gesellschaft", der Urzelle des organisierten Parteiwesens in Wiesbaden und Nassau, waren alles andere als friedlich-evolutionär, sondern eindeutig revolutionär: Abschaffung von Fürsten, Zöllen, Zehnten, Gerechtigkeit für alle, Abhilfe der Not der arbeitenden Klasse, Beseitigung des Mißstandes zwischen Kapital und Arbeit.
Diese politische Richtung wurde von dem am 24. Mai 1848 gegründeten "Arbeiterverein" getragen, der in der Kur= und Residenzstadt aus dem Stand 300 Anhänger mobilisieren konnte. Im revolutionären Sommer 1848 und noch einmal 1850 stand dieser Arbeiterverein unter dem Einfluß des Arbeiterführers Karl Schapper, Pfarrersohn und Forstwirt aus Weinbach bei Weilburg ("Nassaus Tribun der Arbeiterbewegung"). Er war Weggefährte von Marx und Engels, lebte ab 1840 in London und prägte das "Kommunistische Manifest" von 1847/48 entscheidend mit.
Während Schapper somit einen Hauch von internationaler Arbeiterbewegung in die noch immer kleinstädtischen Wiesbadener Verhältnisse brachte (14000 Einwohner, 20000 Gäste und ca. 4 – 5000 Arbeitnehmer), gab es auch eine bodenständige Komponente mit dem Ingenieur Oswald Dietz, dessen Vater Stadtrat und Mühlenbesitzer war und der zusammen mit Schapper den Verein auf dem 1. Kongreß der "Demokraten Deutschlands" im Juni 1848 in Frankfurt vertrat. Dietz mußte noch im gleichen Jahr aus Nassau fliehen, beteiligte sich 1849 am badischen Aufstand, entkam nach Frankreich und wirkte seit 1852 in Texas, wo er seine sozialen und sozialistischen Ideen weiterentwickelte. Er starb 1898 in Cincinnati.
Karl Schapper wurde wegen Teilnahme am Idsteiner Kongreß der Nassauer Demokraten am 10. Juni 1849 inhaftiert, im Frühjahr 1850 freigelassen, feierte am 26. Mai mit dem aus dem Arbeiterverein hervorgegangenen Arbeiterbildungsverein auf dem Neroberg und wurde schließlich am 22. Juni ausgewiesen – nicht ohne sich stilvoll per Anzeige in der Freien Zeitung von den Frauen und Jungfrauen Wiesbadens zu verabschieden.
Ohne die führenden Köpfe der Revolutionsjahre und angesichts der wiedererstarkenden Reaktion verlor der Arbeiterbildungsverein schnell an Einfluß und wurde im Oktober 1851 aufgelöst. Diese "sozial-demokratischen" Spuren in der neueren Wiesbadener Stadtgeschichte sollten nicht in Vergessenheit geraten!
Erst kurz vor dem Untergang des Herzogtums im Jahre 1866, nämlich im Mai 1862, lassen sich Hinweise auf ein Wiederaufleben der organisierten Arbeiterbewegung finden: Damals wurden Kontakte zum Arbeiterbildungsverein Frankfurt geknüpft. Und am 4. November 1865 konstituierte sich erneut ein Wiesbadener Arbeiterbildungsverein. Von ihm führt ein direkter Weg zur Sozialdemokratie von heute. Mittler zwischen Verein und Parteiorganisation wurde Leonhard von Bonhorst, 1840 in Kaub als Sohn eines nassauischen Offiziers und Rechnungsrats geboren. Auf seine Initiative schlossen sich am 12. Mai 1867 die Arbeiterbildungsvereine von Frankfurt, Wiesbaden, Offenbach und der am 28. April 1867 gegründete Biebricher Verein zum "Mittelrheinischen Arbeiterbund" zusammen: Die Zeit des Schönschriftübens und der Vorträge über Frösche und Fliegen war vorbei. Die preußische Militärmonarchie, die das Herzogtum gerade erst unter Verletzung der Volkssouveränität annektiert hatte, ließ nichts Gutes erwarten. Bonhorst fand im Herbst 1867 Anschluß an eine bereits bestehende Gruppe Wiesbadener "Lassalleaner". Er veranlaßte, daß ihn der Präsident des 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Johann Baptist von Schweitzer, zum "Bevollmächtigten" für Wiesbaden berief. Er war damit sozusagenunser erster Ortsvereinsvorsitzender.
Am 8. Dezember 1867 traf man sich dann bei Louis Kimmel. Einige Versammlungsteilnehmer entschlossen sich damals, dem ADAV beizutreten. Anfang 1868 wurde Bonhorst auch in Erbenheim und Dotzheim aktiv. Unterstützt wurde er vom Winkeler Buchhalter Hirsch, 1874 erster sozialdemokratischer Kandidat in Wiesbaden bei der Wahl zum Deutschen Reichstag (342 Stimmen = 2,13 %).
1869 engagierte sich Bonhorst beim erfolgreichen Streik der Wiesbadener Schneidergesellen, dann wandte er sich vom ADAV ab und August Bebel zu: Bei der Gründung der "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" am 7./9. August 1869 in Eisenach vertrat er den Wiesbadener Ortsverein, der im Oktober 1869 auch formell gegründet wurde. Es war der einzige "Eisenacher" im Rhein-Main-Raum, weil alle anderen bis zum Zusammenschluß 1875 weiter dem ADAV angehörten.
Im Spätherbst 1869 ging Leonhard von Bonhorst nach Braunschweig und wurde erster hauptamtlicher Sekretär der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die dort ihren Sitz hatte.
Die Vorgeschichte der Wiesbadener SPD war damit praktisch abgeschlossen. Der "Alltag" setzte ein: Verfolgungen, Verhaftungen, 1875 erstmals die Auflösung. Ein voller Erfolg war diese Auflösung in Wiesbaden allerdings nicht, weil der neugegründete Gesangverein "Eintracht" verblüffende Ähnlichkeit personeller Art mit dem aufgelösten Ortsverein hatte, und besonders verdächtig war der Kgl. Polizei, daß "hervorragende Sozialdemokraten, die nicht einmal singen konnten", dem Verein als Ehrenmitglieder angehörten.
Es war nur ein bitterer Vorgeschmack auf das, was der Partei während der Geltung des sogenannten "Sozialistengesetzes" blühte, nämlich eine zwölfjährige brutale Verfolgung, aus der sie allerdings gestärkt hervorging.
Zunächst aber wurden Organisation und Parteipresse zerstört. Die Partei geriet in eine schwere Krise. Denn in der illegalen Betätigung war man völlig unerfahren, und sie widersprach wohl auch der Mentalität eines Großteils der Mitgliedschaft. Vorsorglich aber legte man beim Kgl. Landratsamt Wiesbaden eine neue Akte an: "Special – Acten betr, Gemeingefährliche Bestrebungen der Sozialdemokratie". Am 18. Dezember 1878 berichtete der Schiersteiner Bürgermeister: "Seit dem Erlaß (des Sozialistengesetzes) haben sich die Sozialdemokraten der Gemeinde Schierstein ziemlich ruhig verhalten," "auch in den Wirthshäusern nicht mehr die Sprache geführt wie früher." Doch der Landrat traute diesem Frieden keineswegs und ließ die "Hülfscassen" überwachen. In Biebrich wurde man fündig. Aus Dotzheim kam Fehlanzeige mit merkwürdiger Schlußfolgerung: "In Dotzheim zwei Kranken- und Sterbevereine ohne Nachweis bestimmter sozialdemokratischer Tendenzen. Da aber viele Taglöhner und Fabrikarbeiter, namentlich auch auswärtige, dabei beteiligt sind, so liegt die Vermutung nahe, daß auch sozialdemokratische Elemente darunter sind."
1883 wurden die Staatsorgane nervöser: Die "Agitation" nahm damals spürbar zu. Man trat beispielsweise als Redner bei der Fortschrittspartei auf. Selbst geheime Wahlversammlungen riskierten die "Roten". Und man sprach die Leute in den Häusern an und diskutierte – wie die Regierung zugeben mußte – ausgesprochen gewandt und überzeugend. Um die Mitte der 80er Jahre kam es zur Gründung von berufsbezogenen Fachvereinen, die eindeutig sozialdemokratische Sammelpunkte bildeten: Glasergesellschaft, Schneiderfachverein, Fachverein der Maurer etc. wie auch der Gutenberg-Verein der Buchdrucker, der sogar auf eine Kontinuität seit 1863 zurückblicken konnte.
Alle Fachvereine wurden im Mai 1888 polizeilich geschlossen, da sie von stadtbekannten Sozialdemokraten geführt würden und politische Themen behandelt hätten. Das war der Ferienkammer des Landgerichts Wiesbaden 1890 so wenig plausibel, daß sie sich weigerte, das Hauptverfahren zu eröffnen: Zum 15. September wurde das Verbot aufgehoben, weil die politische Einstellung einzelner Vereinsmitglieder für die Beurteilung eines Vereins unmaßgeblich sei…
Doch der Staat hatte nichtsdestoweniger sein Ziel erreicht: Für mehr als zwei Jahre waren den Sozialdemokraten wichtige legale Stützen ihrer Organisation zerschlagen worden!
Erste Erfolge
Nach dem Fall des "Sozialistengesetzes" 1890 ergab sich größerer Spielraum, ohne daß die Bespitzelungen aufhörten. Ungehalten forderte der Landrat des Landkreises Wiesbaden am 1. Februar 1893 dazu auf, die sozialdemokratische Agitation besonders in Biebrich strenger zu überwachen, weil sie sich über den ganzen Landkreis Wiesbaden verbreite. Manchmal gelang es natürlich auch, die hohe Obrigkeit auszutricksen. So tarnte man im Herbst 1891 eine Lassalle-Gedenkfeier in der Gastwirtschaft "Krone" in Dotzheim als Familienausflug des Wiesbadener Gesangvereins "Union" zum Dotzheimer Gesangverein "Sängerlust". Rein zufällig tauchte der Reichstagskandidat Fleischmann/Karlsruhe auf und hielt eine zündende Ansprache. Eilends wurde der Dorfbürgermeister gerufen, woraufhin Fleischmann abbrach. Als Bürgermeister Heil erschien, tanzte die Gesellschaft völlig politikfrei und sang dann und wann. Der mißtrauische Ortsobere "patroulirte" dann auf der Obergasse vor der "Krone", bis die Gesellschaft mit Damen und Vereinsbannern gegen 23 Uhr friedlich nach Wiesbaden abzog.
Zuweilen ging es sehr heftig und deftig zu: Am 9. August 1891 wurde der Schuhmacher Philipp Eul aus der Blücherstraße 16 mit 44:9 Stimmen zum Vertrauensmann der 5000 Genossen des I. Nassauischen Wahlkreises gewählt. Am Tag darauf kam es darüber im Ellerschen Lokal in der Schwalbacher Straße 3 im Rahmen einer öffentlichen Versammlung zu Querelen. Eul dankte gerührt für das geschenkte Vertrauen. Es war ein Danaer-Geschenk. Denn, so berichtete der überwachende Schutzmann der Kgl. Polizei-Direction: "Zum Schluß kam es zwischen den einzelnen Genossen in Betreff der Neuwahl des Vertrauensmannes zu den heftigsten Debatten, welche in Thätlichkeiten so weit ausarteten, daß der Schneider Fink, welcher gewissermaßen die Veranlassung gegeben hatte, aus dem Versammlungslokal geworfen wurde."
Friedlicher verlief die Veranstaltung vom 9. Oktober 1891: 180 Personen, darunter 25 Frauen, lauschten der Referentin, Fräulein Wabnitz aus Berlin, beim Thema "Die Frau in der Industrie". Zwei Millionen Frauen in Industrie, beim Bau und selbst in Schmieden würden als Lohndrückerinnen ausgenutzt. Was dann folgte, könnte den Genossinnen sicher auch heute noch passieren: Der Versammlungsleiter erklärte, er schließe sich vollinhaltlich den Ausführungen der Berliner Referentin an. Und nun müsse man die schlechte Tarifsituation der örtlichen Müllergehilfen diskutieren.
"Mit einem Hoch auf die Emanzipation des Weibes und des Mannes wird darauf die Versammlung um 11 1/4 Uhr Abends geschlossen", führte der Pickelhaubenträger gewissenhaft Buch.
In den im Hessischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrten Akten der Kgl. Polizei-Direction, die sozialdemokratische Bewegung betreffend, stößt man auf ein stolzes Requisit – ein gemustertes Stück Stoff in roter Grundfarbe, etwa 0,80 x 1,00 m groß: Das Stück Stoff hatte man am 1. Mai 1893 auf dem Grundstück Kellerstraße 17 an einer Stange gehißt. Der Schutzmann Neuroth wurde ausgesandt, dieser Provokation zu begegnen und die drohende Revolution durch sofortigen Einzug des Stoffes zu unterbinden. Wie man weiß, ist dies auch gelungen. Das Stück Stoff müßte im Wiesbadener Stadtmuseum – so es dies einmal geben sollte – einen Ehrenplatz erhalten!
Es ging aufwärts: Die Partei konnte bei öffentlichen Versammlungen bis zu 1000 Zuhörer mobilisieren. Besonders Wilhelm Liebknecht oder Emil Fleischmann waren regelrechte Publikumsmagneten.
Man wagte sich verstärkt dem Umland zu, nicht immer erfolgreich: So verprügelten 1893 die Bierstadter Bauern "bald" die Mitglieder der "Landagitations-Kommission". Besser war es deshalb, den "roten Bazillus" über die Pendler – vor allem die Bauarbeiter – an den heimischen Wirtshaustisch gelangen zu lassen.
Apropos Wirtshaustisch: Ein probates Mittel der Polizei war Druck auf die Wirte, der Partei keine Räume zu überlassen. Die Waffe wurde 1893 stumpf, als der Parteiwirt Max Eller den "Schwalbacher Hof" in der Emser Straße (mit Saalbau) übernahm. Ab 1907 stand dann das Gewerkschaftshaus zur Verfügung.
1891 bis 1895 kämpften die Mainzer mit ihrem "Volksboten" und die Frankfurter mit der "Volksstimme" um den Einfluß auf die Wiesbadener Partei. Die Parteikonferenz in Mosbach von 1891 sprach sich zwar für die Mainzer Zeitung aus, schließlich siegten aber doch die Frankfurter: Der Vorstand empfahl offiziell die Lektüre der "Volksstimme".
Verstärkt kam es damals wieder zur Gründung von Arbeiterbildungsvereinen. Interessant ist das Studium der Statuten, die keineswegs standardisiert waren: Während die Biebricher lapidar in Paragraph 1 formulierten: "Zweck des Vereins ist die Förderung der Ziele der Sozialdemokratie", differenzierten die Dotzheimer wie folgt: "Der Verein bezweckt die gegenseitige Belehrung durch Vorträge und Besprechungen über kommunale, politische (!), nationalökonomische und wirthschaftliche Tagesfragen, um auf gesetzlichem Wege den Interessen der Arbeiter Geltung zu verschaffen." Und selbst als Jusos hätten wir in den 60er Jahren noch aus der Dotzemer Geschäfts-Ordnung lernen können: "Auch der Leiter der Versammlung muß sich in der Rednerliste einzeichnen lassen, falls er sich an der Diskussion betheiligen will. Er hat während dieser Zeit den Vorsitz seinem Stellvertreter zu übergeben" (Paragr.4) oder "Der Vorsitzende ist verpflichtet, den Redner bei Abschweifung von dem zur Diskussion stehenden Gegenstand ‚zur Sache‘, bei Verletzung der Ordnung ‚zur Ordnung‘ zu rufen" (Paragr. 5). Und mißtrauisch war man auch: "Abänderungen des Protokolls sind durch Nachtrag und nicht durch Radierungen vorzunehmen."
Aber es ging keineswegs immer nur um Bildung. Als Antwort auf die gesellschaftliche Diskriminierung und Isolierung – besonders in den "bürgerlichen" Vereinen – schloß man sich auch verstärkt in eigenen Arbeitervereinen für Sport und Geselligkeit zusammen. Da gab es: Arbeiterturnvereine ("Freie Turner"), Arbeiterradsportvereine ("Solidarität"), Arbeiterchöre ("Liederblüte/"Frisch Auf"), die "Naturfreunde", den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), später auch Schachclubs, den Esperantobund, einen Arbeiter-Radio-Bund, einen Arbeiterschützenbund – kurzum: Es bestand ein weitverzweigtes Netz von kulturellen und sportlichen Organisationen, flankiert, ergänzt, überlagert von genossenschaftlichen Gruppen (Konsumverein) und vor allem natürlich von der Gewerkschaftsbewegung.
1899 beteiligten sich die Sozialdemokraten erstmals an den Kommunalwahlen in Wiesbaden und stellten in der 3. Abteilung – es galt ja das preußische "Dreiklassenwahlrecht" – drei Kandidaten auf. Doch gewannen die Freisinnigen haushoch (bei einer Wahlbeteiligung von 14,2%). Aber 1901 reichte es: Der Glaser Groll schaffte den Einzug ins Stadtparlament. 1903 tricksten die bürgerlichen Parteien die Linke durch eine Einheitsliste aus, doch der Bürgerblock zerbrach schon 1905, und Philipp Eul wurde Stadtverordneter. Bis 1913 steigerte man sich auf vier von 48 Sitzen.
Bei den Reichstagswahlen 1890 sicherte sich Emil Fleischmann auf Anhieb 30 % der Stimmen im Stadtkreis Wiesbaden. Die Partei lag damit an 2. Stelle, doch hatte sie damit zugleich – wie sich bald zeigen sollte – den größten Teil ihres Wählerpotentials erschlossen. Zum größten Triumph während der Kaiserzeit kam es 1907, als der Möbeltischler Gustav Lehmann nicht zuletzt durch Unterstützung von Zentrumsanhängern in der Stichwahl gegen den Nationalliberalen Eduard Bartling gewann. Wiesbaden stöhnte auf: "Wenn dann der Kaiser nicht mehr kommt ? !" Doch er kam. Nach wie vor.
1904 hatte die Partei in Wiesbaden und Vororten 968 Mitglieder, 1910 waren es 1408. Da hatte die Weltkurstadt ihre Wachstumsdynamik bereits spürbar eingebüßt: Wiesbaden war für die Society nicht mehr "in".
Aber gerade aus der Spätzeit des wilhelminischen Wiesbaden gibt es noch ein denkwürdiges Beispiel für die ungebrochene Verfolgung engagierter Sozialdemokraten: Einer der Gründer der Bierstadter "Solidarität", eines noch heute bestehenden Arbeiterradsportvereins, der Schmied August Liebig, war 1910 in den Gemeindevorstand von Bierstadt als Schöffe gewählt worden. Als er sich im Preußischen Landtagswahlkampf 1913 als Wahlmann seiner Partei aufstellen ließ, strengte der Landrat von Heimburg ein Disziplinarverfahren gegen ihn an, weil er seinen Amtseid gegenüber Seiner Königl. Majestät von Preußen durch Unterstützung einer Partei, die den Staat bekämpfe, verletzt habe. Obwohl die Bierstadter Körperschaften sich einmütig gegen diese Bevormundung wandten, hatte Liebig keine Chance: Am 10. März 1914 bestätigte das Oberverwaltungsgericht letztinstanzlich, daß der Schöffe Liebig als Beamter zu betrachen sei und somit pflichtwidrig gehandelt habe: Es blieb bei der vom Kreisausschuß ausgesprochenen Entlassung Liebigs. Sarkastischer Kommentar der Frankfurter Volksstimme: "Nichts anderes als auf gleiche Stufe gestellt mit …. Gaunern (und) notorischen Lumpen, deren allerdings noch tausende in preußischen Ämtern und Würden sitzen und die das Disziplinargesetz nicht erreicht, weil – nun, eben nur, weil sie keine Sozialdemokraten sind."
Weimar
Die Niederlage am Ende des 1. Weltkrieges leitete über in die Republik von Weimar, die vor allem ein demokratisches Wahlrecht brachte. Aber die überkommenen Strukturen in Wirtschaft und Verwaltung vermochten sich zu halten, so daß für die Sozialdemokratie bald wieder schwere Zeiten heraufzogen. Erschwert wurde die Situation durch die 1917 vollzogene Abspaltung der USPD, die auch in Wiesbaden eine eigene Organisation aufbaute und u.a. die in Biebrich geborene Toni Sender anzog, die mittlerweile in Frankfurt lebte und 1920 ein Reichstagsmandat errang. Kurz darauf beschloß die USPD-Mehrheit den Anschluß an die 3. Internationale in Moskau und den Zusammenschluß mit der KPD. Toni Sender schloß sich mit der Minderheit 1922 wieder der SPD-Reichstagsfraktion an. Am 6. Februar 1920 hatte sie übrigens vor der USPD in Dotzheim referiert.
Wiesbaden wurde zu Beginn der 20er Jahre mehr als jede andere deutsche Großstadt von Krisen geschüttelt:
Diktatur Verfolgung Widerstand
In Wiesbaden konnte sich – wegen der französischen und englischen Besatzung – erst 1926 eine Nazi-Ortsgruppe bilden. Die "Schlacht von Nastätten" Anfang März 1927 mit einem Toten und mehreren Schwerverletzten bildete den Auftakt für nicht endenwollenden Terror gegen linke Politiker und Gewerkschafter. Hatten 1927 nur 700 Wiesbadener für die Hitler-Bewegung votiert, so waren es 1930 – ein Jahr nach Beginn der Weltwirtschaftskrise – 27000 Stimmen ( 27% gegenüber 22,6% SPD und 12,7% KPD). Der Abend der Machtergreifung vom 30. Januar 1933 zeigte durch Gegenveranstaltungen der "Eisernen Front" und der KPD, daß der Widerstandsgeist der Arbeiterparteien noch ungebrochen ist. Daß die Polizei in der Friedrichstraße Demonstranten angriff und niederknüppelte, ließ schlimmste Ahnungen aufkommen. Die Auflistung der "Volksstimme" vom 24.2.1933 (sie erschiennur noch bis zum 11. März) – vier Tage vor dem Reichstagsbrand – dokumentiert noch einmal das ganze Ausmaß des Terrors von SA und SS.
Dann kamen das "Ermächtigungsgesetz" und die Gleichschaltung von Parlament, Verwaltung, Wirtschaftsverbänden und Vereinen. Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaftshäuser gestürmt. Das Ende der freien Gewerkschaften war gekommen. Wer die Hölle der Prügelkeller der SA überstand, landete oft in den schnell geschaffenen "Konzentrationslagern" oder verlor zumindest seinen Arbeitsplatz und stand mit der Familie vor dem wirtschaftlichen Ruin. Und doch hatten immer noch Genossinnen und Genossen den Mut, dem Terror-Regime zu trotzen: Mehr als 50 Namen umfaßt die Ehrentafel der SPD in der Chronik zum einhundertjährigen Bestehen im Jahr 1967, welche die Inhaftierten, Ermordeten und Umgekommenen festgehalten hat.
1990 erstellten Axel Ulrich und Lothar Bembenek eine 450-seitige Dokumentation zu Widerstand und Verfolgung in Wiesbaden zwischen 1933 und 1945 – ein erschütternder Bericht.
Am 23. Mai 1933 fand die letzte Parteiversammlung in der Nähe des "Knusperhäuschens" statt. Henry Schubert kandidierte nicht mehr als Vorsitzender. Sein Nachfolger wurde der Vorsitzende der Sozialistischen Arbeiterjugend und junge Stadtverordnete Georg Buch. Nach dem Verbot der Partei am 22. Juni 1933 blieb ihm die schwierige Aufgabe, sie in Widerstand und Illegalität zu führen, damit sie am Tage des Zusammenbruchs der Diktatur erneut handlungsfähig hervortreten könne.
Doch bis dahin waren noch viele Opfer zu bringen. Otto Witte, Wiesbadens Reichstagsabgeordneter, mußte nach Hamburg fliehen, wo er in das KZ Fuhlsbüttel kam. Gewerkschaftsführer Konrad Arndt wurde von SA-Truppen niedergestochen. Verhaftet und verurteilt wurden die Reichsbanner-Aktiven um Georg Feller und Albert Markloff, die illegale Gruppe in Dotzheim um Luise Schwarz, Albert Müller und Karl Hölzel, die der SAJ-Frauen mit Sabine Schwalbach-Moeckel, Henny Neu, Liesel Zorn und Grit Wölfert und auch der harte Kern der SAJ: Georg Buch, Richard Otto, Karl Ebert und Kurt Madlo.
Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juni 1944 wurden 190 Wiesbadener verhaftet. Funktionsträger der SPD und KPD kamen nach Dachau. Es verstarben dort: Fritz Brüderlein, Otto Haese, August Hölzel, Otto Else und auch fünf Wiesbadener Kommunisten. Glücklicherweise überlebten einige von ihnen, die unverzichtbar für den demokratischen Wiederaufbau werden sollten, wie Johannes Maaß, Emil Dietz oder Eugen Dengel und Otto Stückrath.
Am 28. März zogen die US-Truppen kampflos in Wiesbaden ein. Erneut begann ein demokratischer Aufbau.
Die auf der Kur aufbauende wirtschaftliche Struktur war zusammengebrochen.
Die Franzosen hatten die Stadt besetzt – in ihrem Gefolge traten die Separatisten auf.
Eingemeindungsverhandlungen verliefen lange Zeit erfolglos.
Der Sozialetat erdrückte alle anderen Haushaltsansätze.
Immerhin gelang es, eine Volkshochschule zu schaffen, die am 9. Januar 1921 feierlich im Rathausfestsaal eröffnet wurde. Am 16. März 1921 wählte man Johannes Maaß zum 1. Vorsitzenden des Volkshochschulbundes. Alexander Hildebrand feierte den eloquenten und mutigen Westerwälder anläßlich des 100. Geburtstages 1982 rückblickend als "bedeutenden Philantropen und Reformpädagogen".
Der Start in die Demokratie verlief für die SPD in Wiesbaden durchaus erfreulich: Bei den ersten Wahlen am 22. Oktober 1919 wurde sie stärkste Partei und errang 16 von 60 Mandaten. Während in Biebrich die SPD mit Abstand größte Partei war (1919), kam es im "roten Dotzheim" zur Umkehr der Strukturen: USPD 8 – SPD 5 – Bürgerliche 5 Sitze. Auch in einer anderen Frage stimmten die eigenwilligen Dotzheimer gegen den Trend: Bei der Abstimmung über die Enteignung der Fürsten, waren 96 % f ü r die Enteignung, im Reichdurchschnitt lag dieser Wert bei 35,9 % (Juni 1926).
Zwar erlebten Arbeitersport und Arbeiterkultur einschließlich des Volkshochschulwesens ungeahnten Zuspruch, zwar wurde die von der SPD in den Vororten vehement geforderte Eingemeindung nach Wiesbaden erreicht (1926/1928), aber die politische und großwirtschaftliche Wetterlage verschlechterte sich zusehends.
1925 wurde auch in Wiesbaden ein Ortsverein des "Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold" (1924 in Magdeburg ins Leben gerufen) gegründet. Er hatte die Aufgabe, Veranstaltungen, Gebäude und Demonstrationen gegen den immer aggressiver auftretenden rechtsradikalen Terror zu schützen. Am Ende der Weimarer Republik bildeten SPD, Gewerkschaften und "Reichsbanner" – als Antwort auf die "Harzburger Front" vom Oktober 1931 der politischen Rechten mit Schwerindustrie und Presse und Militär – am 16. November 1931 die "Eiserne Front" als letzte Bastion gegen die rechtsextremistischen Aktivitäten. Doch der Widerstand konnte das Unheil nicht mehr aufhalten: Am 30. Januar 1933 "brach die Finsternis der Diktatur über Deutschland herein", wie es Heinrich Potthoff in seiner "Kleinen Geschichte der SPD" formulierte.
Wiedergründung der Wiesbadener SPD und demokratischer Aufbau
Da die Militärregierung Parteien erst ab 2. September 1945 wieder zuließ, begann die Parteiarbeit dort, wo sie i Nazireich geendet hatte, nämlich in der Illegalität: Am 1. Mai 1945 trafen sich die Frauen und Männer der SAJ in der Hubertushütte im Goldsteintal.
Johannes Maaß sammelte die ältere Generation um sich. Seit 6. August war auch Schorsch Buch wieder dabei: In einer dreieinhalbmonatigen "Odyssee" hatte er sich von Berlin (KZ Sachsenhausen) nach dem Rhein durchgeschlagen. Ihm vor allem trauten es die Genossinnen und Genossen zu, die Partei zu sammeln – und, wie wir ihn kennen und schätzen: er es sich auch.
Durch die Lizenz vom 28. September 1945 wurde die Parteiarbeit legalisiert. Am 14. Oktober fand im Kolpinghaus die Wiedergründungsfeier statt. Gemeinsam erklang "Brüder zur Sonne, zur Freiheit". Kurz darauf wählte die Kreiskonferenz Johannes Maaß zum Vorsitzenden und Georg Buch zum Geschäftsführer. In der 1. Kommunalwahl am 26. Mai 1946 erreichte die SPD 38,2 % und stellte vier hauptamtliche Magistratsmitglieder (Philipp Holl wurde Bürgermeister, Georg Buch Dezernent für Ernährung und Wirtschaft). Das Stadtparlament trat am 2. Juli zur konstituierenden Sitzung in der Aula der Gewerbeschule in der Wellritzstraße zusammen. Am 15. Juli versammelte sich in der Aula der Oranienschule die Verfassungberatende Landesversammlung und wählte den früheren Wiesbadener Reichstagsabgeordneten Otto Witte zu ihrem Präsidenten.
Am 19. Dezember 1946 wurde er zum Präsidenten des Landtags gewählt (bis 1954), 1966 bis 1974 sollte später Georg Buch dieses Amt ausüben. In den Nachkriegsjahren hatte er allerdings zunächst andere Sorgen. Denn die Sicherung der Ernährung war eine schier unlösbare Aufgabe. So mußte beispielsweise die Polizei eingesetzt werden, um die Kartoffelfelder in der Erntezeit zu bewachen! Brennstofftransporte mußten gleichfalls organisiert werden. Eine weitere Buchsche Sisyphusarbeit war die Bewältigung der Arbeit des Wohnungsdezernenten ab 1948. Inzwischen waren Zehntausende von Vertriebenen und Flüchtlingen nach Wiesbaden gekommen, die verpflegt, untergebracht und schließlich auch integriert werden mußten. Lange hatten sie um gesellschaftliche und wirtschaftliche Gleichberechtigung zu kämpfen. Vorbildlich gelang dies beispielsweise im SPD-Distrikt Bierstadt. Zahlreiche Sudetendeutsche, unter ihnen eine Reihe von engagierten Sozialdemokraten mit stolzer demokratischer Tradition, hatten sich dortniedergelassen. Seit der Hauptversammlung vom 25. Januar 1947 waren sie mit einem Delegierten aktiv an der politischen Willensbildung beteiligt.
Stellvertretend für diese Sudetendeutschen Genossinnen und Genossen sei erinnert an Wenzel Jaksch, Vorsitzender der Seliger-Gemeinde und 1953 bis 1966 hessischer Bundestagsabgeordneter. 1967 folgen dann viele BHE-Funktionsträger dem Bundestagsabgeordneten Heinz Kreutzmann und treten in die SPD ein.
Die Volkspartei SPD
1954 wurde Georg Buch zum Bürgermeister gewählt, im gleichen Jahr eroberte die SPD bei der Landtagswahl erstmals alle drei Wiesbadener Wahlkreise (Buch, Fuchs, Lippmann), 1956 errang sie erstmals in ihrer Geschichte die absolute Mehrheit im Stadtparlament. Es war die großartige Zeit des "Hessen vorn" unter Georg August Zinn und der diversen "Hessenpläne", die das Land bis in die letzten Winkel grundlegend umgestalteten und ungebrochenen Glauben an den Fortschritt signalisierten.
1960 wurde mit Georg Buch erstmals ein Sozialdemokrat Oberbürgermeister der hessischen Landeshauptstadt. Ein weiterer Erfolg gelang 1961: Die SPD konnte an ihre Position während der Weimarer Zeit anknüpfen, und Karl Wittrock errang den Bundestagswahlkreis Wiesbaden (138). 1965 folgten ihm Karl-Walter Fritz (1962-1969 zugleich UB-Vorsitzender) und 1969 der Sozialpfarrer Horst Krockert. Inzwischen hatte die SPD im "Godesberger Programm" von 1959 den Wandel von der Partei der Arbeiterklasse zur Volkspartei vollzogen und sich damit neue Anhängerstrukturen erschlossen. Im Jubiläumsjahr 1967 zählte man über 4000 Mitglieder. Aus den bis dahin elf "Distrikten" wurden ab 1. Januar 1968 insgesamt 25 Organisationseinheiten. Im Sommer 1968 endete die noch auf den II. Nass. Wahlkreis des Norddeutschen Bundes (1867) zurückgehende organisatorische Bindung der SPD Wiesbaden an Rheingau und Untertaunus, zu denen später noch der Landkreis Limburg gekommen war: Aus dem Ortsverein wurde der Unterbezirk Wiesbaden, aus den Distrikten wurden Ortsvereine. Es war die brodelnde Zeit der "Großen Koalition", der Studentenunruhen, der Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze, der aufmüpfigen Jungsozialisten, des Kampfs um die Erhaltung der City-Ost und der Reste der Altstadt ("Schiffchen"), aber auch der breiten Diskussion um mehr Mitbestimmung und die Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit sowie der nie mehr erreichten Mobilisierung der SPD-Arbeitnehmerschaft der Wiesbadener Industriebetriebe und Verwaltungen in über 30 Betriebsgruppen.
Aber auch damals lagen, wie so oft, Erfolge und Mißerfolge dicht beieinander: Querelen in der Kasteler SPD führten zum Austritt einer Genossin und damit zum Verlust der absoluten Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung (1970). Unter dramatischen Umständen hatte in der Unterbezirks-Delegiertenkonferenz von 20. Februar 1970 Jörg Jordan den amtierenden UB-Vorsitzenden Robert Krekel abgelöst. Bei der Landtagswahl vom 8. November 1970 verlor die Partei ein Direktmandat an die CDU. Und schließlich begleitete handfester Krach die Nominierung eines neuen Sozialdezernenten am 14. November 1970.
Die Partei verordnete sich eine Regenerationsphase: Der frühere Schuldezernent und Landtagsabgeordnete Rudi Schmitt, seit 1947 SPD-Mitglied und seit 1968 Nachfolger von Georg Buch als Oberbürgermeister, war nun als Mann des Ausgleichs gefragt. Er übernahm den UB-Vorsitz.
Und der Partei gelang es bei der Kommunalwahl vom 22. Oktober 1972, an frühere Erfolge anzuknüpfen und einen Stimmenanteil von 50,7 % zu erringen. Noch beachtlicher war der Stimmenanteil von 52,4% bei der legendären Bundestagswahl vom 19. November 1972.
Nach einem erneuten Zwischenspiel von Jörg Jordan als Unterbezirksvorsitzendem folgten am 25. April 1975 Frank Beucker mit Achim Exner als "Vize", die damit Landes- wie Stadtparlament in der Wiesbadener Parteispitze repräsentieren.
Doch die alsbald einsetzende Wirtschaftskrise, der RAF-Terrorismus, aber auch die Praxis der Berufsverbote machten viele Positionen gerade der Wiesbadener SPD nicht mehr vermittelbar. Der Jahresbericht für 1977 stellt lapidar fest: "In einer politischen Wüstenregion kann es keine saftige kommunale Oase geben" – Erklärungsversuch für den Rückgang auf 40,6 % der Stimmen bei der Kommunalwahl vom 20. März 1977.
Aber die Partei hatte Glück im Unglück: Der CDU war es nicht möglich, ihre absolute Mehrheit in einen echten Machtwechsel umzumünzen, weil zwei bis drei "U-Boote" die entscheidenden personellen Entscheidungen blockierten. So hielt sich Oberbürgermeister Schmitt bis 1980, auswärtige Dezernentenanwärter scheiterten, ja, die SPD konnte sogar einen CDU-Bürgermeister nach eigenem Geschmack installieren.
Hatte Rudi Schmitt die Bundestagswahl 1980 im Wahlkreis 138 noch für sich entscheiden können, so sank die SPD bei der Kommunalwahl vom 22. März 1981 mit 37,7 % in die Drittklassigkeit ab: Von 16 einstigen Hochburgen bei den 26 Ortsbeiräten blieben gerade noch fünf. Dann lag die Partei aber bei der Hessenwahl 1982 doch wieder im Aufwind: Frank Beucker jagte Dr. Christian Bartelt den Wahlkreis 26 ab, den dieser 1974 und 1978 gewonnen hatte, ab. Und Herbert Schneider rettete den klassischen "Schorsch-Buch-Wahlkreis" 28 mit einem Vorsprung von 3,7 %. Dieser Trend stabilisierte sich bei den vorgezogenen Landtagswahlen vom 25. September 1983: Frank Beucker und Herbert Schneider konnten ihren Vorsprung ausbauen, CDU-Abgeordneter Kanther verlor gleich 7,3 %. Insgesamt kam die Wiesbadener SPD auf 45,6 %.
Die Ausgangsposition für die Kommunalwahl 1985 war somit geschaffen. Und am 10. März kam die Wende: Nach einem ganz auf den Sozialdezernenten Achim Exner zugeschnittenen Wahlkampf ("Ein Oberbürgermeister, der handelt") hatten SPD und Grüne 42 von 81 Sitzen im Stadtparlament. Es reichte also für eine rot-grüne Mehrheit. Und die Koalition hielt mit Ächzen und Krachen immerhin eine Legislaturperiode lang, nachdem Achim Exner an Stelle von Dr. Jentsch zum Oberbürgermeister gewählt worden war. Bei den Ortsbeiräten stellte die SPD nunmehr 18 von 26 Ortsvorstehern (7 CDU, 1 FDP); ganz exakt gab es insgesamt 21 Ortsvorsteher und 5 Ortsvorsteherinnen.
1987 bei der Hessenwahl wendete sich das Blatt erneut – die CDU schaffte es, zusammen mit der FDP, SPD und Grüne zu überrunden. Damit ging eine jahrzehntelange Kontinuität von sozialdemokratischer Regierungsverantwortung reichlich unspektakulär zu Ende – für gerade vier Jahre allerdings nur, wie wir als Zeitzeugen festzustellen haben. "Im Promillebereich SPD-Stammland erobert", konstatierte der Kurier am 7. April. Denn in der Tat hätten 1502 Stimmen mehr derSPD das entscheidende 45. Mandat gebracht. Die mit 7,8 % überdurchschnittlichen Verluste der SPD auf 38,1 % in Wiesbaden (Herbert Schneider retteten nur 150 Stimmen vor dem Wahlkreisverlust an Horst Klee) ließen Schlimmstes für die nächsten Kommunalwahlen befürchten. Doch wieder lief alles ganz anders: Am 12. März 1989 langte es mit 49,5 % zu 41 Sitzen und damit zur absoluten Mehrheit. Entscheidend waren nach einer Sofortanalyse des Wahlamtes die Integrationskraft des Spitzenkandidaten Exner und die Zugewinne bei den Jungwählern. Die Christdemokraten fanden sich bei 33,4% – schwächstes Ergebnis sei 1968. Ihr Vorsitzender Dr. Jentsch trat zurück.
Für die demokratischen Parteien brachte die Europawahl vom 18. Juni 1989 ein unsanftes Erwachen: Die CDU sackte auf 31,6%, die SPD blieb unter 40% (39,1%), und 10000 Wiesbadener stimmten rechtsextrem (9,4 %)!
Diverse Pendel schlugen dann bei der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 zurück: Die CDU hatte mit 43 % die Nase und Hannelore Rönsch vorn, Heidi Wieczorek-Zeul erreichte 41 %.
"Von Hessen verstehen wir mehr" war die selbstbewußt-trotzige Antwort auf das Debakel von Bonn. Und die Hessen akzeptierten den Wachwechsel im Stadtschloß der nassauischen Herzöge: Seit dem 20. Januar 1991 war erneut Rot-Grün angesagt. Und in Wiesbaden lag die Meßlatte für Rot bei 42,8 % und für Schwarz bei 41,2 %: Frank Beucker verteidigte erfolgreich seinen "Erbhof", jetzt mit der Nr. 30, der "Newcomer" Hans Maus setzte sich im Südosten durch. Und wieder steht ein Wahlgang an – am 7. März 1993 geht es erneut um die Machtgewichtung im Wiesbadener Rathaus.
Meine zeitrafferartige Betrachtung hat insbesondere für die letzten Jahre Wahlen und Wahlergebnisse in den Vordergrund gerückt, weil, wie ich meine, sie das Auf und Ab der Sozialdemokratie in einer nach ihrer politischen Tradition eher heterogenen Stadt mit einem relativ geringen Stammwähleranteil aller Parteien am ehesten deutlich machen können. Doch bleibt festzuhalten:
Das schmale "rote" Fundament, das in den fernen blau-orangen Zeiten des Alten Nassau gelegt worden ist, hat sich trotz zweimal zwölf Jahren brutalster Verfolgung auch in einer Stadt, in der die Arbeiterschaft nie eine dominierende Rolle spielte, als tragfähig für beachtliche politische Erfolge erwiesen. Wir sind es denen, die hierbei im Rampenlicht oder bei der Kärrnerarbeit mitgewirkt haben, schuldig, daß wir ihres Beitrages in bewährter Solidarität gedenken – hierzu sollte dieser Rückblick dienen.